Wirtschaftliche Ungleichheiten, Wohnungsprobleme und Migration gelten als zentrale soziale Fragen des 21. Jahrhunderts. Doch das Thema Mobilität wird in dieser Debatte oft übersehen, obwohl es eine entscheidende Grundlage sozialer Teilhabe bildet. Der folgende Essay zeigt, dass Transport ein wesentlicher Faktor sozialer Gerechtigkeit ist, der nahezu alle Aspekte des modernen Lebens beeinflusst. Dabei soll keine spezifische Verkehrsform kritisiert werden, sondern vielmehr verdeutlicht werden, welche Herausforderungen in diesem Bereich bestehen und welche Ansätze künftig notwendig sind.
Mobilität ist nicht optional, sondern essenziell für jede Form sozialer Teilhabe. Menschen müssen mobil sein, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dabei ist nicht nur entscheidend, ob jemand mit dem Auto oder dem Bus zur Arbeit pendelt – oft hängt die Berufswahl insgesamt vom Faktor Mobilität ab. Auch der eingeschränkte Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und anderen wesentlichen Dienstleistungen beeinflusst die Lebensqualität erheblich und kann im Extremfall als „Mobilitätsarmut“ beschrieben werden.
Mobilität bestimmt somit die individuellen Möglichkeiten und Lebensrealitäten. Wie groß die Nachfrage nach bezahlbaren Mobilitätsoptionen ist, zeigte das 9-Euro-Ticket im Sommer 2022: Innerhalb von drei Monaten wurden über 60 Millionen Tickets genutzt – insbesondere von Menschen, die sich andere Transportmittel nicht leisten konnten. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Mobilität nach wie vor ein Privileg ist, von dem bestimmte soziale Gruppen unter normalen Umständen ausgeschlossen sind.
Ungleichheiten im Bereich Mobilität nehmen in der Regel mit der Geschwindigkeit der genutzten Transportmittel zu. Während der Großteil der Menschen zu Fuß gehen kann (wobei bereits hier viele Rollstuhlfahrer und Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen sind!), sinkt der Anteil der Gesellschaft, der beispielsweise aktiv am Luftverkehr teilnimmt, drastisch. In den USA entfielen 2019 rund 70 % der Flugreisen auf lediglich 12 % der Bevölkerung, während mehr als die Hälfte der Menschen gar nicht flog. Selbst eine Ausweitung des Angebots führt in der Regel nicht zu einer gerechteren Verteilung, sondern erhöht lediglich die Reiseintensität jener Bevölkerungsgruppen, die ohnehin bereits regelmäßig fliegen.
Die Diskriminierung hinsichtlich der Verfügbarkeit bestimmter Verkehrsmittel steht im klaren Gegensatz zur Bewältigung der dadurch entstehenden Externalitäten. Während Stau, Lärm und Emissionen von der Bevölkerung getragen werden – oftmals auch stärker von Unbeteiligten – sind die positiven Aspekte wie Reisezeit und Komfort personalisiert. Das Prinzip des Utilitarismus bestimmt hier die Verteilung der Effekte: Der individuelle Nutzen wird wenn möglich maximiert. Jedoch betrifft dies zumeist nur die positiven Seiten der Mobilität; die negativen Aspekte werden kollektiviert und somit auf die Allgemeinheit abgewälzt.
Einen Gegensatz dazu bildet das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, das zuerst von John Rawls beschrieben wurde. Es besagt, dass jede Person den gleichen Anspruch auf ein System von Grundfreiheiten hat, das mit denselben Freiheiten für alle vereinbar ist. Darüber hinaus werden soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann akzeptiert, wenn sie einer fairen Chancengleichheit entsprechen und den am wenigsten begünstigten Mitgliedern der Gesellschaft den größten Vorteil verschaffen.
Diese Ablehnung des utilitaristischen Prinzips würde erfordern, Mobilität vor allem für die unteren sozialen Schichten neu zu denken. Statt neuer Kapazitäten für Autobahnen wären höhere Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr notwendig, und Lösungen wie das 9-Euro-Ticket sollten dauerhaft bestehen bleiben. Auf der Habenseite würde dies nicht nur eine gestärkte soziale Gemeinschaft mit sich bringen, sondern auch positive Effekte für Wirtschaft und Klima.
Insgesamt bleibt Mobilität eine Gretchenfrage der Gesellschaft und wird in ihrer Relevanz nicht abnehmen. Das Bedürfnis nach Transport ist universell, und um ein faires, zukunftsfähiges System zu gewährleisten, müssen neue Lösungen entwickelt werden. Am „eckigen Tisch“ wird hierzu auch in Zukunft kräftig diskutiert.
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