Quantifizierung des Seins

Ein Appell an den Humanismus

Wie viele Kalorien hast du heute gegessen? Wie lang ist dein Duolingo-Streak? Wie viele Länder hast du schon bereist? Wie schnell war dein letzter Halbmarathon? Wie effizient ist dein Schlaf? Wie lange musst du meditieren, um als ausgeglichen zu gelten? Wie viel verdienst du? Welches Ranking hat deine Uni, was ist dein Bodycount – und, ja, wie lang ist eigentlich dein Johannes?

Wir leben in einer Welt, in der wir uns zunehmend selbst vermessen, überwachen, optimieren. Der Mensch wird zum KPI und das Leben zur Aufgabe eines Projektmanagers. Es wird getrackt, dokumentiert, verglichen – als sei das Dasein ein Projekt mit klaren Deadlines und Erfolgsmessungen.

Selbst Beziehungen bleiben unverschont. Freundschaft wird zur Follower-Zahl, Attraktivität zur Swipe-Statistik, Kollegen zu Kontakten in einem digitalen Netzwerk. All das dient einem Zweck: dem Vergleich. Denn was sich quantifizieren lässt, lässt sich einordnen – und wer sich einordnen kann, hofft, dem eigenen Minderwertigkeitsgefühl in zumindest einer Disziplin zu entkommen, ja, zumindest ein beliebiges Siegerpodest zu erreichen. Auch die Partnersuche wird erwiesenermaßen nach immer härteren Kriterien gestaltet: Das erwartbare Erbe des potenziellen Partners nimmt in Befragungen unter Singles einen immer höheren Stellenwert ein.

Aber was passiert in einer solchen Entwicklung mit dem, was sich nicht zählen lässt? Mit Gefühlen, mit Werten, mit sozialen Beziehungen? Wenn alles messbar ist, hat das Unzählbare dann überhaupt noch einen Wert?

Byung-Chul Han hat dieses Phänomen 2010 in dem Essay „Die Müdigkeitsgesellschaft“ thematisiert. Er unterstellt modernen Gesellschaften einen zwanghaften Drang nach Effizienz und erkennt im Individuum das Streben nach einer neoliberalen Vermarktungslogik. Die dauernde Beschleunigung, Selbstoptimierung und das Vernachlässigen von Mitmenschen mache auf Dauer krank, müde und entmündige den Menschen. Auch Individualismus und Freiheit kategorisiert er als Prinzipien des kapitalistischen Ausbeutungssystems, in dem Menschen zu Waren reduziert werden.

Der Gegenpol einer solchen Entwicklung, stellt den Menschen in den Fokus des Seins – nicht seine Errungenschaften. Liebe und Glück, Trauer und Verlust können nicht gemessen und abgebildet werden, sind jedoch deutlich tiefer im Menschen verankert. Das zwanghafte Herbeiführen oder Unterdrücken dieser Gefühle erzeugt eine künstliche Ebene, die ohne echte Resonanz bleibt. Zwischenmenschliche Tiefe durch Freundschaften, Beziehungen, und Erfahrungen erfüllen eine Existenz langfristig und Werte wie Loyalität und Mitgefühl bilden das Grundgerüst des sozialen Miteinanders.

Der Ausblick muss nicht pessimistisch sein. Wenn Künstliche Intelligenz die Menschen zunehmend von funktionalen Aufgaben entlastet, entsteht Raum für Nicht-Produktive Tätigkeiten – für Muße, Kreativität, Begegnung. Dieser Raum muss sinnvoll und human gestaltet werden – eine Aufgabe, die auch Bildungseinrichtungen übernehmen müssen. Die Jugend soll auch in Zukunft lernen zu leisten und zu perfomen – aber ebenso zu leben. Gerade Disziplinen wie Kunst, Literatur und Musik verdienen neue Aufmerksamkeit: Als exemplarische Fächer der Geisteswissenschaften lehren sie uns Mensch zu sein – nicht nur zu Funktionieren.

In einer Welt der Effizienz wird Menschlichkeit zur Ausnahme, vielleicht sogar zur Rebellion. Diese Rebellion sollten wir annehmen – und sie verteidigen. Denn wer am Ende seines Lebens zurückblickt, wird wohl in seinem „Life Wrapped“ kaum die Statistiken sehen wollen. Was bleibt, sind Erfahrungen und Gefühle: das Verliebtsein, Freundschaften und das Teilen echter Nähe. Die effizienten Menschen werden auch effizient zu Grunde gehen. Den humanen aber soll die Zukunft gehören – und mit ihr das, was wir im Kern sind: Mensch.

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