Shitbürgertum – einmal Abrechnung mit Alles bitte

Die Neu- und Bestseller-Publikation „Shitbürgertum“ des Journalisten und WELT-Herausgebers Ulf Poschardt wagt eine provokant scharfe wie humorvolle Entgegenstellung zu einer moralisch überheblichen Elite, die laut dem Buch längst über diverse Kultur, Sprach- und Politikbereiche herrscht. Zwei Leser reviewen, mit unterschiedlichen Ansichten, von ihren Eindrücken – und einer zentralen Frage: Was ist die Alternative zum Kaputtmachen?

Generelle Review

Im deutschen Politikjournalismus und vielen weiteren Gesellschaftsbereichen dominiert in unserer Gegenwart eine linksgrüne Meinungsmacht. Sie trägt elementar zur Spaltung der Gesellschaft und Stärkung politischer Ränder mit Zuwendung zu diesen bei. Aus dieser entwickelte sich ein Ungleichgewicht an echter Meinungsvielfalt und den Themen Moral vs. Recht. Ist man heutzutage nicht „auf der richtigen Seite“, was auch immer das philosophietheoretisch bedeuten mag, wird man von diesen Shitbürgern oft gesellschaftlich ausgegrenzt oder gar (öffentlich) an den Moralpranger gestellt. Das Buch „Shitbürgertum“ geht mit Zusammentragungen aus Artikeln dem Phänomen dieser ‚moralischen Besserwisser‘, früher Spießbürger genannt, auf die Spur. Dafür reist der Autor bis in die Nachkriegszeit, um dort entwicklungshistorische Spuren und evolutionäre Verwerfungen zu finden und für den zeitlichen Fortlauf aufzugreifen. Neben Status-Quo-Analysen der „Deutschen“ wird abschließend ein kurzer Selbsttherapieversuch dem Shitbürger gegenüber gewagt, der wohl das Buch gar nicht erst liest oder bis dahin schon abgebrochen hat, weil er es nicht erträgt. Das Buch ist unbequem und stößt relfexartig bei vielen auf Ablehnung. Trotzdem ist es einer der Sommerbesteller geworden, weil so viele wieder mal etwas „normales“ und nicht abgehobenes lesen wollen. Für mich bleibt abschließend offen, wie man die Gesellschaft als ‚Ganzes‘, ‚individuelles Volk‘ wirklich wieder zusammenführen kann, anstatt sie weiter zu spalten und wieder für ausgewogenere Kräfte für „die vernünftige Seite“ zu gewinnen. Was mag der zweite Leser dazu denken? Um auch im schriftlichen Dialog zu bleiben, sind ergänzende Gedanken [eingefügt].

Kritik

Leider bleibt dem Leser jedoch nicht nur ein perspektivischer Lösungsansatz, sondern überhaupt eine generelle Definition des Shitbürgertums vorenthalten. Poschardt pauschalisiert quer durch die Gesellschaft: Vom Bafög-Empfänger über die NGO-Mitarbeiterin bis hin zu (linken) Politikern fallen grundsätzlich alle in seine angeprangerte Gruppe. Eine differenzierte und systematische soziale Einordnung existiert nicht; das Buch basiert in diesem Sinne vielmehr auf Einzelbeobachtungen und subjektiven Eindrücken. Dies drückt sich auch im generellen Stil des Buches aus, das eher als eine Aneinanderreihung verschiedener Essays charakterisiert werden kann denn als eine logisch definierte Abhandlung (von einer sozialwissenschaftlichen Empirie ganz zu schweigen).

Poschardt referenziert durchaus passende Passagen von Nietzsche und Hegel, aber auch Josef Schumpeter und Robert Willacker, die dem Buch Substanz verleihen. Durch diese Einwürfe wird ein typisch kapitalistisches Bild gezeichnet, das staatliche Eingriffe minimiert, den freien Menschen postuliert und jegliche moralische Vorschriften ablehnt. Vom Autor selbst werden diese bestehenden Gedanken jedoch nicht in ein politisches System weiterentwickelt, sondern lediglich mit Polemik unterstrichen. [Diese Polemik wird zu Beginn im Buch angekündigt, es soll kein besseres Niveau als die des Shitbürger-Umgangstones hierbei erstrebt werden, im Selbsttherapieversuch hätte dieser eingefügt werden können.]

So entstehen für den neutralen Leser durchaus absurde Aussagen, wie etwa die Bezeichnung des Trios Trump, Musk und Milei als die „Avantgarde des Westens“. Offensichtlich findet Poschardt Gefallen an exzentrischen Rechtspopulisten. [Wie kann diese pauschale Einordnung getroffen werden? Milei ist eher ein Ultraliberaler] Wobei man nicht vergessen darf, dass dieses Trio ideologisch noch eine durchaus andere Ebene eint, bei der es um mehr geht als lediglich die „Moraldiktatur“ zu vernichten. Man denke hier nur beispielsweise an die Epstein-Files, öffentliche Hitlergrüße und Korruptionsskandale.

Auf der positiven Seite muss man Poschardt zugutehalten, dass er das Thema auf den (eckigen) Tisch bringt. Nun mag es sehr polemisch und seicht wirken, dennoch gibt es in Deutschland kaum Autoren, die ihre Kritik so offen und deutlich äußern. Und es gibt durchaus Punkte, an denen kein Zweifel herrscht: Eine Staatsquote, die 2026 voraussichtlich auf 51,5 % wächst, ist viel zu hoch und nicht tragbar. Eine Krankheitsquote von durchschnittlich fast 20 Tagen im Jahr zeugt nicht von Ehrgeiz und Fleiß, und es ist unbestritten, dass Ambition mittlerweile eher belächelt als anerkannt wird.

Und hier liegt der springende Punkt: Die Abhandlung über das „Shitbürgertum“ hat einen wahren und ernstzunehmenden Kern. Dass die Besteuerung der Mittelklasse zu hoch ist, Mehrarbeit sich nicht lohnt und deshalb lieber in Teilzeit gegangen wird, sind echte ökonomische Probleme, die von der Politik angegangen werden müssen. Dass Steuern erhöht werden müssen, um Kriege, NGOs [im Buch wurde mir nochmals deutlicher gemacht: Es sind eher GOs, die einer klaren Linie folgen, welche den Regierungsparteien in ihrem Programm meist zuhilfe kommen, echte NGOs sollten gar nicht vom Staat finanziert werden dürfen oder dies annehmen (!)] und einen enormen Beamtenapparat zu finanzieren, geht der Mehrheit ebenfalls gegen den Strich. Dass es der aktuellen Politik nicht gelingt, eine breite Mehrheit abzuholen und durch eine „Moralherrschaft“ vielmehr zum Erstarken der AfD [und Linke] beiträgt, anstatt sich auf Realpolitik zu besinnen, ist eindeutig. Und es herrscht kein Zweifel daran, dass jeder Mensch gerne ein selbstbestimmtes Leben führen möchte, fern von moralischen Klassenkämpfen.

Lösung (oder eine Richtung in diese?)

Hier verpasst es Poschardt jedoch leider, eine fundierte und differenzierte Lösung aufzuzeigen, und schlägt die Kerbe zwischen den Lagern nur noch tiefer. Beispielsweise hätte sich ein Blick auf die Schweizer Lösung angeboten, wo es seit 2002 keine klassischen Beamten mehr gibt, sondern kündbare öffentlich-rechtliche Angestellte. Oder ein Blick auf das Problem der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit, das sich auch in Deutschland verstärkt und korrigierende Maßnahmen erfordert.

Eine Alternative, zu einer sinnvollen Koexistenz zwischen den „Lagern“ Shitbürgern und „den anderen Normalen“ wird dem Leser nicht aufgezeigt. Das liegt daran, dass die Shitbürger hierfür wenig kompromissbereit zu seien scheinen. Ob das wirklich so ist, sollte individuell überprüft und bei jedem Momentum mit einem solchen Shitbürger ausgetestet werden. Historisch zeigt sich, dass der Mensch wandelbar und viele eine Fahne im Wind sind, oft auch nur „NPCs“, warum sollte dies beim Shitbürger nicht so sein? Mitnehmen werde ich vor allem den Gedanken, dass die Erscheinung des Shitbürgers nicht ein ganzheitliches Phänomen des Westens ist, sondern die belehrlichen Einstellungen der Menschen mit Besserwisserei primär die auf die des typischen Deutschen zurückzuführen sind. Was ich, Leser 1, noch vermisse, ist ein Ausblick auf kommende Generationen, und was wir aus der Gen Z konkret jetzt machen können. Zurück zur abschließenden Beurteilung meines Freundes und Lesers 2:

Ausblick

Das Buch bleibt somit überwiegend polemisch und kann maximal als Dosenöffner für tiefere und sachlichere Diskussionen verstanden werden. Gesellschaften sind deutlich pluralistischer als das Narrativ von Shitbürgern vs. Libertären, und wirtschaftspolitische Aspekte gestalten sich komplexer als die pauschale Forderung nach einem minimalen Staat. Poschardt ist somit weniger die Analytik und der Realismus seiner Abhandlung anzurechnen. Es bleibt jedoch vor allem der Mut, das Buch auf eigene Faust zu veröffentlichen und eine Diskussion zu fördern, die sonst allzu oft zu kurz kommt – und in Zukunft unbedingt weitergeführt werden muss, wenn auch auf einer anderen Ebene. [Welche Ebenen das sein werden, bleibt abzuwarten]

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